„Der ganze Laden duftet nach Mutti“
Die Tochter einer Frau im Klamottenkaufrausch bietet ihr Erbe in einem Designer-Secondhand-Laden feil
Kreuzberg – 80 Quadratmeter hat ihr Laden, trotzdem: Immer noch lagert ein Drittel der Sachen, die Victoria Schmidt von ihrer Mutter geerbt hat, zu Hause. Die Geschichte ist fast unglaublich: Als sie vor zwei Jahren starb, hinterließ Hildegard Zerfowski ihren Kindern ein Haus voller Kleidung. Die Tochter wusste sich nicht anders zu helfen, als daraus einen Secondhand-Laden zu machen. „Das hätte ich nie und nimmer auftragen können!“
Kein Wunder. 780 Blusen, 600 Hüte, 580 Hosen, 160 Anoraks, 100 Paar Schuhe, 80 Bademäntel. Das sind aber nur die Sachen, die ihre Mutter nie anhatte. „Und alles vom Feinsten: Joop, Bogner, Burberry. Meine Mutti hatte einfach einen außergewöhnlich tollen Geschmack“, sagt Victoria Schmidt begeistert. Am liebsten würde sie sich von nichts trennen: „Aber das geht einfach nicht!“ Gestern habe sie sich einen Nerz angezogen und sei damit auf die Straße gegangen. „Ich habe mir gesagt: Wenn dich da jemand drauf anspricht, dann behältst du ihn. Nach 20 Metern habe ich das erste Kompliment bekommen. Aber es geht eben einfach nicht.“ Trotzdem, ein paar Sachen behält sie. Zum Beispiel die handgemachte Rosshaar-Handtasche. Die hat 3000 Mark gekostet. „An der haben vier Leute einen ganzen Tag lang gearbeitet.“
Einkaufen – das war das Leben von Hildegard Zerfowski. „Genug Geld hatte sie ja“, sagt Victoria Schmidt. In den Zwanzigern war ihre Mutter, eine hübsche Frau mit roten Haaren und Sommersprossen, Model in Budapest und Wien. Nach dem Krieg baute sie einen Kräutergroßhandel auf. Anfangs belieferte sie Butter Beck, später zählten das KaDeWe, Wertheim und andere zu ihrem Kundenstamm. „Und wenn Mutti ihren Basilikum in der Lebensmittelabteilung des KaDeWe abgeliefert hatte, ging sie einfach ein paar Stockwerke tiefer in die Kleiderabteilung“, sagt Frau Schmidt. Dafür ist sie heute dankbar: „Das ist das beste Geschenk, das mir meine Mutter machen konnte. Wenn ich morgens in den Laden komme, sage ich ¸Guten Morgen, Mutti´ und abends ¸Danke, Mutti´.“ Victoria Schmidt ist vor allem von den Menschen begeistert, die sie jeden Tag kennen lernt. „Ich hatte hier schon alles: Von der Sozialhilfeempfängerin bis zur reichen Polin.“ Von allen lässt sie sich die Telefonnummer geben, um sie zu einer Party in ihrem Laden einladen zu können. Inzwischen kommen bis zu 50 Menschen pro Tag. „Aber die Klamotten werden einfach nicht weniger“, sagt Frau Schmidt. Doch das scheint ihr nichts auszumachen; man merkt: Ihr geht es fantastisch. „Der ganze Laden duftet nach Mutti. Es ist doch toll, wenn ein Mensch noch so viel Freude verbreiten kann, obwohl er schon seit zwei Jahren tot ist.“ Angetan ist sie auch vom Kiez rundherum. Fast ein halbes Jahr war sie auf der Suche nach einem Laden. Als sie den an der Manteuffelstraße entdeckte, hat sie ihn sofort genommen. „Ich finde es wunderbar hier, auch zum Weggehen.“
Die etwas füllige Frau genießt ihr Leben. Parties im eigenen Laden – mit „Trinken bis zum Abwinken“, Nächte durchfeiern in der Schnabel- und der Mongo Bar. Selbst die Arbeit im Laden scheint für sie eine kleine Feier zu sein. „Jeder Kunde bekommt eine kleine Flasche Wein in seine Einkaufstüte.“ Mit ihrer herzlichen Art hat sie schon in den ersten Monaten Stammkunden gewonnen. „Eben hat mich eine Frau angerufen, um sich für die tollen Klamotten zu bedanken“, erzählt sie. „Die hat mich jetzt noch gebeten, nach Strickjacken von Susanne Köhler zu suchen.“ Die Kunden sind begeistert von den Klamotten. Lilo Najork ist heute zum ersten Mal im Laden. Für die 70-jährige Rentnerin wird es bestimmt nicht das letzte Mal gewesen sein. „Das ist einfach toll hier. Ich liebe es, durch Secondhand-Läden und über Flohmärkte zu streifen. Und die Mutter von Frau Schmidt hatte ja einen irren Geschmack!“ Heutige Bilanz des Einkaufs: zwei Hosen. Und dann ist da ja noch der Nerz, der Lilo Najork so gut gefällt „Aber das liebe ich so an Secondhand-Läden: Hier kann ich in aller Ruhe stöbern, ohne Hemmungen und ohne Druck.“ Victoria Schmidt lässt ihren Kunden genug Zeit. „Zum Glück muss ich hiervon nicht leben, so macht das ganze noch mehr Spaß“, sagt sie. „Ich mache das just for fun.“ Sie ist außerdem noch Handelsvertreterin für ökologische Produkte im Kräutergroßhandel, den inzwischen ihre Brüder führen.
Wenn sie einmal alle Klamotten ihrer Mutter verkauft haben sollte, will Victoria Schmidt ihren Laden behalten. „Dann mach‘ ich hier eine Galerie auf.“ Den Kiez will sie nicht mehr verlassen, denn sie sei ja gerade auf dem besten Weg, eine Kiezgröße zu werden. „In einer Bar muss ich schon nicht mehr bezahlen, weil ich für so gute Stimmung sorge.“
Berliner Morgenpost, 21. März 2001