Kinder des Condor
Der konservative Präsident Uruguays sucht nach verschollenen Opfern der Militärdiktatur. So will er die Unterstützung der linken Opposition für seine neoliberale Politik gewinnen.
Es schien, als würde sich das fortsetzen, was die Uruguayer schon seit Jahren kennen. Zwar stellte die Linke nach den Wahlen im vergangenen November erstmals die stärkste Fraktion im Parlament, doch setzte sich in den Präsidentschaftswahlen wieder ein konservativer Kandidat durch. Dies war das Ergebnis einer Allianz der beiden konservativen Parteien, die das kleine südamerikanische Land seit über 150 Jahren abwechselnd regieren. Einst geradezu verfeindete Lager, versuchten die Blancos und Colorados jetzt mit einem gemeinsamen Kandidaten in der Stichwahl, der „linken Gefahr“ zu trotzen. Erfolgreich – ihr Kandidat Jorge Batlle setzte sich gegen den linken Herausforderer Tabaré Vázquez durch. Enttäuscht von diesem Wahlausgang waren vor allem diejenigen, die sich von einer linken Regierung endlich Aufklärung über die Verbrechen der Militärdiktatur erhofft hatten. 15 Jahre liegt diese zurück, seit 15 Jahren schien die Vereinigung der Mütter und Verwandten von verschwundenen Verhafteten einen aussichtslosen Kampf zu führen. Vom neuen Präsidenten, Mitglied der konservativen Colorados, wurde erwartet, dass er die Politik seines Vorgängers fortsetzen und alle das Militärregime betreffenden Fragen ignorieren würde.
Umso größer war die Verwunderung, als Batlle kurz nach seiner Wahl einen brisanten Einzelaspekt aufgriff: Die vom Militär entführten Kinder von Oppositionellen. Keine vier Wochen nach seinem Amtsantritt traf sich der neue Präsident mit dem argentinische Dichter Juan Gelmán. Der Dichter sucht seit Jahren nach einer Spur von seiner Enkelin. Gelmáns Sohn Marcelo und dessen Frau María Claudia Irureta Goyena wurden am 24. August 1976 in Buenos Aires von Militärs entführt. Sie war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger. Marcelo Gelmán wurde gefoltert und ermordet, María Claudia Irureta an die Militärs in Montevideo übergeben, wo sie ein Kind zur Welt brachte. Was danach geschah ist bis heute ungewiss – sicher ist nur, dass die Mutter tot ist.
Die uruguayische Militärregierung hat die Opposition mit aller Härte und zum Teil unbeschreiblicher Brutalität verfolgt. Verhaftungen, Verurteilungen und Folter waren an der Tagesordnung. Von den drei Millionen Einwohnern sind in den Jahren der Diktatur über eine halbe Million Menschen aus Uruguay geflohen. Uruguay war in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Im gesamten „Cono Sur“ – Uruguay, Paraguay, Chile und Argentinien – herrschte in den siebziger und achtziger Jahren Militärs, die mit der „Operation Condor“ länderübergreifend gegen die „Subversion“ vorgingen. Dieser Kooperation der Militärs fielen auch die Goyenas zum Opfer. Bis heute fehlt von 170 Uruguayern fehlt jede Spur, darunter acht Kinder, die ihren Müttern weggenommen wurden. Die Frauen sind größtenteils kurz nach der Geburt von den Militärs ermordet worden. Die Babys wurden meist an kinderlose Ehepaare gegeben, die dem Militärregime nahestanden. Einige der Mütter haben aber überlebt und kämpfen seit Jahren zusammen mit anderen Angehörigen von „Verschwundenen“ für die Aufklärung der Verbrechen.
Die Suche ist nicht leicht. Ein Amnestiegesetz von 1989 verhindert jede Bestrafung der Verantwortlichen. Zwar verspricht ein Passus dieses Gesetzes, die Verbrechen zumindest zu untersuchen. Die Regierung aber hatte bis jetzt nie den Willen, das Schicksal der „Verschwundenen“ aufzudecken. Zudem haben sich die Militärs vehement allen Nachforschungsversuchen widersetzt.
Mitte des Monats aber hat erstmals ein Gericht die Untersuchung eines Falles angeordnet. Ermittelt werden soll der Verbleib der „verschwundenen“ Elena Quinteros – und die Antwort auf die Frage, ob sie vor ihrem Tod noch ein Kind geboren hat. Inzwischen hat Batlle rechtliche Schritte gegen diesen Gerichtsbeschluss angekündigt und damit demonstriert, dass es ihm nicht wirklich um eine Aufarbeitung der Militärdiktatur geht. Vor allem macht er damit aber klar, dass er kein Interesse an einer Konfrontation mit der Armee hat.
Zu eng sind noch die Verquickungen zwischen Militär und Regierung. Die Diktatur war nahezu nahtlos aus der damaligen Regierung der Colorados unter Präsident Juan Bordaberry hervorgegangen, und auch nach der Diktatur folgte wieder ein Präsident aus den Reihen der Colorados. Viele Beamte wurden zur Zeit der Militärdiktatur ernannt, ihre Posten haben sie alle noch inne. Eine Putschgefahr geht von den Militärs zwar derzeit nicht mehr aus, aber noch immer verfügen die Militärs über großen politischen Einfluss. Die Generäle, die noch in den Achtzigern Hetzjagd auf Linke veranstaltet haben, sind zumeist noch auf ihren Posten oder wurden mit allen Ehren aus dem Militär entlassen und erfreuen sich heute hoher Pensionen.
Eine Entschuldigung für die Verbrechen während der Diktatur hat es bis heute nicht gegeben. Erst vor einigen Wochen hat der jetzige Oberkommandeur des Heeres, Juan Geymonat, jede Entschuldigung kategorisch abgelehnt. Die Befehlshaber von Marine und Luftwaffe haben sich sogleich angeschlossen. Rückendeckung kam von Verteidigungsminister Luis Brezzo: „Ich glaube, man muss sich nicht entschuldigen. Der Präsident hat gesagt, wir alle müssten uns entschuldigen. Gut, wenn sich alle entschuldigen müssen, dann macht es eben keiner.“ Eine von Batlle im Namen des Staates ausgesprochene Entschuldigung lehnt die Opposition ab: Hinter der Entschuldigung sollen die Täter stehen; solange das Militär aber ein Schuleingeständnis verweigert, gilt ihr jede andere Entschuldigung als wertlos.
Während Schweigen über Folter und Mord während der Diktatur herrscht, wird eine strikt neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt. Die Mehrheit der Bevölkerung muss von Jahr zu Jahr mit weniger Geld auskommen – die Lohnerhöhungen betragen etwa ein Fünftel der Inflationsrate. Das Militär aber bekommt wie eh und je eine beachtliche Summe aus der Staatskasse überwiesen.
Nun scheint Batlle nach 15 Jahren zumindest in Teilen eine Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen einzuleiten. Kurz nach dem Treffen mit Juan Gelmán hatte er dessen Enkelin ausfindig gemacht und hat eine Begegnung zwischen beiden arrangiert. Aber diese Bemühungen sind nicht frei von Hintergedanken.
Linke Gruppen warnen, Batlle wolle die Opposition um den Finger wickeln. So erklärt Jorge Zabalza, ehemaliges Mitglied der Gueriallabewegung Tupamaros, Batlles Ziel sei es, die Linke durch die Menschenrechtspolitik auf seine Seite zu ziehen und so die Zustimmung des Parlaments für seine die neoliberale Politik zu bewirken. Tatsächlich arbeitet Batlle zur Zeit an einem Maßnahmenpaket, das Uruguay aus der Krise führen soll. Vorgesehen sind noch mehr Privatisierungen und weitere Öffnung des Marktes. Maßnahmen also, die bisher Uruguay immer tiefer in die Krise geführt haben.
Jungle World, 31.5.2000