Unter dem Ärmelkanal in die weite Welt

Erstmals hat ein ICE der Deutschen Bahn den Eurotunnel
durchquert. Ab 2013 Verbindungen aus Deutschland und Niederlanden geplant

London, 19. Oktober (AFP) – Der Stolz der Deutschen Bahn durfte nicht einmal alleine fahren, sondern musste sich von einer Extra-Lokomotive durch den Ärmelkanal-Tunnel ziehen lassen.
Trotzdem ist die erste Fahrt eines ICE von Frankreich nach Großbritannien am Dienstag für die Deutsche Bahn von großer Bedeutung: Sie ist der erste Schritt, um Züge von Deutschland durch
den Eurotunnel nach Großbritannien fahren zu lassen. Denn ab 2013 will die Bahn täglich drei Züge von Deutschland und aus den Niederlanden nach London schicken. Zudem steht die Testfahrt symbolisch für den internationalen Kurs, den der letzte große deutsche Staatskonzern schon seit Jahren eingeschlagen hat.

In den vergangenen Tagen war der ICE „Schwäbisch Hall“ vom französischen Calais aus schon mehrmals kurz in den Tunnel eingefahren, am Wochenende fanden zwei Evakuierungsübungen mit 300 Passagieren im Tunnel statt. Nun fuhr der Zug bis nach London durch, wo ihn Bahn-Chef Rüdiger Grube, Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) und die britische Vize-Verkehrsministerin Theresa Villiers stolz vorführten. „Mit dieser historischen Zugfahrt rücken Deutschland und Großbritannien künftig näher zusammen“, sagt Grube. „Der erste Meilenstein auf dem Weg zu einer regelmäßigen ICE-Direktverbindung ab 2013 ist vollbracht.“

Die pompöse Feier am Londoner Bahnhof St. Pancras hat ihren Grund: Schon lange schielt die Deutsche Bahn auf die prestigeträchtige Verbindung von Frankreich nach Großbritannien. Seit der Eröffnung des Eurotunnels 1994 fahren dort nur Züge von Eurostar, einer Tochter der französischen Staatsbahn SNCF. Die Züge der Deutschen Bahn dürfen den Tunnel bislang nicht befahren: Die Rettungsvorschriften sehen vor, dass Eurotunnel-Züge komplett zu durchlaufen sein müssen. Die modernen ICEs sind aber in zwei Halbzüge unterteilt.

Die Eurotunnel-Verbindung könnte für die Deutsche Bahn finanziell lukrativ sein, sie ist die meistbefahrene Bahnstrecke der Welt. Bahn-Chef Grube rechnet mit mehr als einer Million Fahrgäste pro Jahr für das Angebot, das seiner Meinung nach „die bessere Alternative zum Flieger“ ist.

Außerdem böte eine solche Verbindung ein hohes Prestige. „Die Frage der Eröffnung der Märkte wird immer selbstverständlicher, aber der Tunnel spielt eine besondere Rolle“, sagt die Bahnexpertin Maria Leenen vom Verkehrs-Beratungsunternehmen SCI. Schwierigkeiten aber könnte Frankreich machen, das bedacht ist, seine Staatsbahn SNCF vor ausländischer Konkurrenz zu schützen. Deshalb will die Bahn nach Ansicht Leenens ein „Signal“ in Richtung Paris schicken: „Wir haben zu Hause mit einem starken Wettbewerb zu tun, warum
sollten wir dann im Ausland nicht selbst auch Wettbewerb machen?“

Für Streit zwischen Paris und Berlin sorgt zudem, dass Eurostar gerade beschlossen hat, die neue Generation seiner Züge beim deutschen Technologiekonzern Siemens zu bestellen. Das ist eine Niederlage für den bisherigen Eurostar-Lieferanten Alstom, dem die französische Regierung sofort zur Seite sprang. Ramsauer zeigte sich in London allerdings zuversichtlich, dass er dies mit seinem „Freund“, Frankreichs Verkehrsminister Dominique Busserau, bei einem Treffen am Mittwoch klären werde.

Keinen Widerstand muss die Bahn von der Tunnel-Betreibergesellschaft Eurotunnel fürchten. Erst vergangene Woche machte Unternehmenschef Jacques Gounon wieder deutlich, dass die Sicherheitsvorschriften geändert werden sollen und auch weitere Bahnbetreiber eingeladen seien, eine Nutzung des Eurotunnels zu beantragen. Grube ist deshalb zuversichtlich, dass die Bahn ab Ende 2013 nach London fahren kann. Und dann soll der ICE auch ohne Extra-Lok fahren – und mit bis zu 320 Kilometern pro Stunde dem Flugzeug Konkurrenz machen.

(c) AFP,  19. Oktober 2010